Indien - Hexenkessel der Gefühle

Zurück in Delhi möchten wir Indien noch einmal wirklich erleben , quasi ein Blick hinter die Kulissen oder – anders ausgedrückt – dorthin wo ein Pauschaltourist wohl nur selten hinschaut. Wir fahren an den Chandni Chowk und lassen Old Delhi einen Vormittag lang auf uns einwirken – eine Hexenkessel der Gefühle . Es gibt hier nichts was es nicht gibt , ein Indien abseits der prunkvollen Paläste , Maharadschas , abseits der kommerziellen Betriebsamkeit der modernen Büros und Shopping Malls . Wir tauchen ein in eine Welt so wie Indien aber zum größten Teil wirklich ist – in unseren Reiseprospekten sieht man Indien nur wie die Werbung es ausdrückt : „ incredible India„ . Indien  ist tatsächlich „incredible„ – nur eben anders und besonders hier . Die Menschen sind gezwungen in einer Welt zu leben die man nicht wirklich beschreiben kann wenn man sie nicht erlebt hat,  nicht die Gerüche gerochen hat , die Geräusche gehört hat , das Leben hier mit  allen Sinnen wahrgenommen hat . Verstehen lässt sich diese Welt ohnedies nicht. Wir versuchen  trotzdem etwas davon zu vermitteln – mit unseren Bildern und  unseren Eindrücken .

 

Wir gehen über den Chandni Chwok und bemühen uns dabei  in keinem der unglaublich tiefen Löcher zu verschwinden,  die sich wie aus dem Nichts auftun , steigen über schlafende Hunde und Menschen und versuchen nicht mit dem Kopf an eines der tiefhängenden Elektrokabel zu stoßen . Dabei übersehen wir dennoch ab und zu einen frischen Kuhfladen und sind noch froh darauf nicht auszurutschen . Außer Kurt – der erprobt gerade seine Geox auf Belastbarkeit – es fühlt sich weich an …. mitten im Fladen …. und vermischt sich in den Atmungslöchern seiner Hightech-Schuhe jetzt mit dem aus der Wüste verbliebenen Sand.  Fast gleichzeitig trifft mich das Geschenk einer Taube von oben . Der Chandni Chwok erwacht . Menschen , die jetzt unter schmutzigen Decken, hinter Stromgeneratoren , unter Brücken oder einfach auf Kartons an einer Mauer die Nacht verbracht haben, kriechen nun hervor,  waschen sich so gut es geht am nächsten Hydranten , manche frühmorgens , manche dann später mitten in der Menge  - niemand nimmt Anstoß daran . Andere sind offenbar besser dran und besitzen eine Fahrradrikscha auf der sie die Nacht verbringen können um nicht direkt im Staub liegen zu müssen . Die Notdurft wird an der nächsten Ecke verrichtet – überall riecht es nach Urin , Müll ist allgegenwärtig an jeder Ecke . Bald ist die Straße voller Betriebsamkeit und Händler versuchen ihr Geschäft zu machen während die zuvor erwähnten bedauernswerten Gestalten um Almosen betteln um über den Tag zu kommen . Man fragt sich welche Kraft sie antreibt  um weiterzuleben ?? . Hier ist alles vertreten , Ratten , Tauben , Kühe , Ziegen , Menschen die Verkehrsinseln mitten im brandenden Gewühl als ihre Schlafstätte okkupiert haben , Fahrrad- und Motorrikschas , Autos , Lastwagen , Fuhrwerke , Handkarren …… die Betrachtungsweise wie  Kurt das alles hier empfindet, ist : Hier hat alles und jeder seinen Platz – und das ist richtig so – jeder wird geduldet und akzeptiert , niemand nimmt Anstoß am Tun , am Sein des Anderen , am Versuch Geld zu machen oder nur zu überleben. So hat es auch Platz, dass ich mitten auf der Straße meine Hose ausziehe und von einem Schneider einen Riss nähen lasse. Eigentlich kümmert es nicht wirklich jemanden. Es sind so unglaubliche Eindrücke und es beschämt uns wieder einmal mit welcher Dekadenz  das reiche Indien über der Lebensweise der untersten Schichten und Kasten, und somit ja ihrer eigenen Landsleute, steht. Ja, und durchaus, auch unser eigener Wohlstand beschämt uns angesichts der Armut hier.

Wir machen Rast an einem Teestand mitten im Gedränge , machen Pause für unsere Sinne , finden unseren Sitz auf einem leeren Handkarren. Aber auch hier , neben uns ein ambulanter Friseur an die Hauswand angelehnt, der gerade einen Kunden rasiert. Daneben sitzt jemand auf einem Karton am Boden und lässt sich die Haare schneiden. Der Teekoch kocht wie ein Besessener Tee und verliert kein Lächeln dabei.  Die Fülle der Eindrücke überwältigt uns auch hier und wir beobachten und empfinden .  

 

Vielleicht aber  muss es auch so sein , geht es nicht anders . Nur ein kleiner Eingriff in diese uns so fremde Welt , ein Versuch nur einen Bruchteil der uns gewohnten Regeln hier zu implementieren würde dieses Gefüge des organisierten Chaos zerbrechen lassen . So aber geht auch dieser Teil Indiens seinen Weg , die Menschen nehmen es hin , gehen damit um – müssen sie ja auch um zu  leben und zu überleben . Ob sie damit glücklich sind ? Wir wissen es nicht , verstehen es nicht, nehmen  aber den Eindruck mit, dass alles hier – um es noch einmal mit Kurt´s Worten auszudrücken – seinen Platz hat .

 

Wir sind froh und können es manchmal wohl nicht genug schätzen auch unseren Platz zu haben – eben in unserer Welt.