Mein Tbilisi

 

Gerade noch kreuzen Kühe und glückliche, freilaufende Schweine unseren Weg auf der Schnellstraße, schon thronen am Horizont graue Wohnblocksiedlungen aus der Sowjetzeit, begleiten uns weiter bis in die Stadt. Tbilisi liegt irgendwo zwischen den Kontinenten. Nach Teheran sind es 1800 Kilometer, nach Wien 3200. Bei jeder Biegung in eine andere Gasse darf man sich entscheiden, auf welchem Kontinent man gerade seinen Fuß gesetzt hat. Ein  faszinierender Balanceakt.

Abends spaziere ich über die futuristische Freedombridge im Zentrum. Unter mir gleitet ein Ausflugsboot über das Wasser der Kura und Musik beschallt für kurze Zeit diesen ruhigen Moment. Der Blick auf die prächtig beleuchtete Nariqala-Festung holt mich rasch zurück in die Dunkelheit des Abends. Die Nacht hüllt bekanntlich jede Stadt in einen Mantel des Zaubers, versteckt das Hässliche und lässt das Schöne erstrahlen. Aber Tbilisi ist eine ganz wunderbare Mischung aus beidem und hier entpuppt sich Schönheit sogar im Verfall, auch tagsüber. Hoch oben auf einem der vielen Hügel thront das Sheraton-Hotel und unten wachsen Feigenbäume aus dem Schutt.

Wir verlängern Tag um Tag unseren Aufenthalt, die Faszination nicht nachlassen will, immer wieder zieht es uns tief hinein ins Gassengewirr. Kopfsteinpflaster leitet uns in die Altstadt, zeigt uns die Reste einer ganz offensichtlich erfolgreichen Gründerzeit, Jugendstil und maurische Elemente ganz nah beieinander. Vieles hier ist dem Verfall preis gegeben, weil politische Wirren der einst erfolgreichen Handelsstadt schwere Wunden zugefügt haben. Man sieht das Bemühen, sie wieder zu heilen, man spürt auch den Mut, der zu überwinden versucht, was Kriege zerstört haben. Und JA, es gelingt vielerorts. Marode Hausfassaden haben manch prächtige Villa fast zur Unkenntlichkeit entstellt. Aber mit etwas Fantasie lässt sich der alte Glanz noch erahnen. Und dann wirkt es fast rührend, wenn sich im Inneren ein kleines Cafe seinen Platz gesichert hat und den Menschen wieder ein Zuhause bietet. Aber genau so präsentiert sich die Innenstadt, versteckt im Alten, bahnt sich Neues wieder einen Weg. Manchmal avantgardistisch modern, manchmal mondän und oft nur einfach, aber liebenswert. Selten habe ich eine Stadt so abwechslungsreich und charmant empfunden.

Unter der großen Barataschwili-Bridge schreit eine grandiose Fotoausstellung nach Aufmerksamkeit – Bildgeschichten, die aufrühren und bewegen. Am Weg dorthin durchschreitet man in den Unterführungen die Welt der Graffiti-Künstler und entdeckt auch hier jedes Mal Neues. Meine Pause nehme ich in einer hippen kleinen Bar in der Nähe der Dry-Bridge und beobachte das Treiben am Flower Market. Während ich so urbane Luft atme, genieße ich mein leckeres Chatschapuri mit einem Glas Amber Wein. Georgische Lebensfreude pur.

Nur wenige Gassen weiter wird es modern. Designerläden, Coworking-Büros und Boutiquehotels säumen die großen Boulewards. Selten habe ich Alt und Neu so dicht ineinander verwoben erlebt, wie hier in Tbilisi. Ich wandere wieder zurück zu meinem Ausgangspunkt, zur prächtigen Sameba-Kathedrale hoch auf einem Hügel im Westen der Stadt. Der Weg dorthin führt durch ein skurriles Gassengewirr. Ein Großteil der Häuser ist baufällig, Fenster ohne Glas, Türen, die schief in der Angel hängen. Manchmal droht der Dachgiebel das ganze Mauerwerk nach außen zu drücken und wird von kräftigen Eisenstangen vom Boden aus gestützt, damit das Gebäude nicht gänzlich kollabiert. Und oben in den Fenstern erkenne ich Wäsche, die ordentlich zum Trocknen aufgehängt wurde – hier wohnt man noch, das steht fest. Man erkennt an jeder Ecke, dass es an Geld fehlt, Improvisationskunst ist gefragt. Und irgendwie scheint es den Georgiern zu gelingen – muss es ja wohl auch. Man sieht dieser Stadt ihre fortwährende Geschichte von Zerstörung und Wiederaufbau an. Aber auch den unerschütterlichen Mut ihrer Bewohner. Und so spaziere ich weiter die engen Gassen bergauf und bergab und komme nicht umhin, dieses Viertel, vielleicht auch gerade wegen des sichtbaren Verfalls, als charmant zu empfinden.

Tbilisi fasziniert nicht auf den ersten Blick – Tbilisi wirkt erst nach und nach. Es ist wie beim Nachspann eines guten Kinofilms. Man könnte schon aufstehen, weil der Film zu Ende ist, doch man möchte nicht, kann sich nicht losreißen, bleibt sitzen, bis der letzte Name aller Mitwirkenden nach oben gelaufen ist. Und so werde auch ich morgen ein letztes Mal die vielen Stufen nach unten in die Stadt laufen, erneut über Brücken und durch enge Gassen schlendern und die Stadt inhalieren.