Abgeschiedenheit in Tushetien
Tibilisi – Alvani (mit dem LKW) – 72 km nach Omalo (mit dem Motorrad)
Wir befinden uns in Omalo – gut 70 km entfernt von der nächsten Kleinstadt. Also eigentlich nicht viel, doch zwischen dort und hier liegt der 2.826m hohe Abano-Pass. Auch das versetzt noch niemanden in Panik. Wenn man bisher jedoch nur die Großglockner-Hochalpenstraße kennt, die ja nur wenig darunter liegt, kennt man nur die halbe Wahrheit. Wir befinden uns hier nämlich im hohen Kaukasus, in Georgien. Und spätestens an diesem Punkt trennen sich dann doch Welten zwischen bekannt und unbekannt. Der Abano-Pass ist nur vier Monate im Jahr geöffnet – das sagt ja schon alles! Die restlichen Monate sind die Schneefälle zu stark, das Wetter zu wild, als dass eine kontinuierliche Räumung möglich wäre. Und nach dem Winter braucht es unzählige Wochen, die Straße wieder einigermaßen befahrbar zu machen. Jetzt, mitten im Sommer ist das gut möglich – aber bitte nicht ohne Offroad-Erfahrung, auch nicht ohne Allrad oder mit Autos, die einfach zu lang, zu hoch und zu schwer sind, um sich über die engen, schräg hängenden Haarnadelkurven, vorbei an Felsvorsprüngen zu winden. Wir treffen daher die einzig richtige Entscheidung und fahren für drei Tage mit dem Motorrad in die Berge.
Tushetien, eine Anzahl extrem abgelegener Dörfer im Hohen Kaukasus, an der Grenze zu Tschetschenien. Wer hat sich bloß hier angesiedelt? Und warum? Die Historie geht weit zurück. Zuerst die Flucht vor dem Georgischen König, der ihnen das Christentum aufzwingen wollte, dann die Flucht vor den Mongolen – eine Jahrtausende alte Kulturlandschaft konnte hier bewahrt werden. Diese abgeschiedene Region hat den Menschen immer wieder Heimat geboten, die mächtigen Wehrtürme waren ihr bester Schutz. Heute leben sie immer noch hier, die Tuschen, und bewahren ihr kulturelles Erbe, wenn auch nur mehr wenige Familien.
Christian hat auf PolarSteps schon alle wichtigen Details zu unserem Ausflug festgehalten, die restlichen Fakten lassen sich im Internet nachlesen. Mich beschäftigt gerade etwas anderes…
Was macht es aus, dass wir so intensiv hier fühlen? Und wie unvergleichlich wunderbarer ist es doch, hier oben zu verweilen! Wir fahren mit dem Motorrad schlappe 20 km von Omalo nach Shenako ins nächste Dorf. Angefühlt hat es sich allerdings wie eine hardcore Tagestour. Es geht extrem steil hinauf und hinunter, die Straße windet sich entlang der Gebirgsfalten immer wieder über herrliche Almpassagen, dann poltern wir über grobes Geröll um am Ende doch über feucht schlammigem Boden durch den Wald zu sliden. Spatzen in meinen Armen vom Festhalten sind garantiert. Die Fahrt hierher sollte „on a good road“ sein, hat man uns zuvor versichert. So war es nicht! Durchgeschüttelt quäle ich mich vom Rücksitz, klappe Beine und Arme wieder mühsam auseinander. Und während Christian seine Drohne startet, lege ich mich erschöpft auf die Wiese, schaue in den Himmel und lasse wirken, was diese Tage mir alles erzählt haben.
Die Unterkünfte in den Dörfern sind einfach aber solide. Unser Guesthouse und v.a. unsere Gastgeber sind großartig – besser hätten wir es nicht treffen können. Ich habe die beiden Jungs (12, 15 Jahre) unserer Gastgeberfamilie gefragt, wo es ihnen besser gefällt, hier am Berg oder in der Stadt im Tal. „Here, in the mountains“ sagen sie wie aus der Pistole geschossen. Jetzt auf meiner Wiese denke ich über ihre Antwort nach. Was gefällt ihnen hier so gut? Es gibt keinen Luxus, keine Geschäfte, sicher weniger Freunde, auch wenig Ablenkungen, Arbeit in der Natur wartet auch auf sie. Sie sind die Übersetzer für ihre Eltern und Großeltern, wenn Touristen kommen. Und wie sie das sind – ihr Englisch ist geradezu perfekt! Sie hätten unten im Tal auch einen Privatlehrer, der ins Haus käme, erzählen sie. Zwei unglaublich eloquente Jungs, die ihrer Familie redlich zur Hand gehen, sich umsichtig auch ganz von alleine um unser Wohl kümmern und sich dann dazwischen mit ihren Handys auf die Bank verziehen, tippseln, lachen und spielen. Ganz normale Jungs eben – die aber trotzdem den Bezug zur Natur nicht verloren zu haben scheinen. Ich finde das bemerkenswert und schön. Es gibt Fragen, die mich während dieser Tage einfach nicht loslassen. Warum fühlt sich hier oben alles so harmonisch an? Wie unterschiedlich Leben doch sind und wie sehr – das ist es vielleicht Teil einer Antwort – Landschaften den Menschen doch prägen. Vielleicht ist das sogar der bedeutendste Faktor überhaupt.
Ich liege also immer noch flach auf eben dieser herrlichen Wiese inmitten bunter Blumen. Im Augenwinkel thront die wunderschöne alte Dorfkirche von Shenako und vermittelt Erhabenheit, so wie sie solitär auf diesem Hügel steht. Warum nur zieht mich diese Gegend so in ihren Bann? Die Almenlandschaft hier im hohen Kaukasus ist der unseren nicht ganz unähnlich. Die alten Dörfer freilich nicht. Die Wehrtürme gibt es nur hier und sie zeugen von schwierigen Zeiten früherer Jahrhunderte. Kampfbereit und auch schutzbedürftig, so mögen sie gewesen sein, die Tuschen, die Bewohner alter Tage. Und die wenigen Familien, die heute noch hier leben, versuchen dieses kulturelle Erbe zu erhalten, ihre Höfe, ihre Häuser, ihre Viehwirtschaft. Vielleicht ist es auch das, was mich fasziniert. Das Leben hier ist bei weitem nicht so beschwerlich wie ich es in den Bergdörfern Nepals oder in Ladakh kennengelernt habe. Nein, hier ist es bedeutend einfacher, schließlich verlassen fast alle nach vier Monaten wieder die Berge in ihr zweites, viel komfortableres Zuhause unten im Tal. Aber dennoch, dass man bis heute diese entlegene Region, in die man nur wenige Monate im Jahr und auch dann nur mit großem Aufwand gelangen kann, weiterhin bewohnt, ist bemerkenswert. Dieser Einsatz – alles zum Erhalt der Vergangenheit! Ein Hauch Romantik schwebt über diesen alten Dörfern und das rührt mich ein bisschen.
Und bei diesem Gedanken merke ich, was es vielleicht sein könnte, was diese Faszination für mich ausmacht…. Es ist diese spürbare Leichtigkeit, die dieses Leben mit der Natur hier vermittelt! Geschichtsträchtige Kultur, hinübergerettet über Jahrhunderte ins Hier und Jetzt. Wenn man es zulässt, sich etwas Zeit gibt, werden Herz und Hirn wie von alleine leicht und frei, so scheint mir. In unserer dichten Zeit hat es etwas Tröstliches zu sehen, wie harmonisch Menschen hier leben – zumindest für eine Zeit lang. Die Almwiesen geben Gemüse und Obst, Wein wird selbst gekeltert, der Chacha gebrannt, die Wolle der Schafe verwebt, Käse, Butter und Milch geben die Rinder. Schweinefleischprodukte dürfen nicht über den Abano-Pass drüber, die sind unrein und würden die Reinheit der Berge beschmutzen. Im Tal unten ist alles wieder erlaubt. Wenn auch durchaus ambivalent, spiegelt sich auch darin die fast romantische Liebe zu ihrer Heimat wider. Und das spürt man. Was die Menschen hier der Natur zurückhaltend nehmen, zum Großteil aber überlassen, gibt die Landschaft wohlwollend zurück. Und während ich hier so auf dieser Wiese liege, immer noch im Augenwinkel die alte Kirche sehe, kann ich ein Stück davon spüren….