Wilde Schönheit im Tal des Theth

 

Man verlässt Shkodra nur kurz und bereits nach wenigen Kilometern tut sich eine völlig andere Welt auf. Eine extrem wilde Gegend. Hier bestimmt immer noch der Kanun, das mündlich überlieferte Gewohnheitsrecht, die Gesetze und Verhaltensregeln der Bergbewohner. Ein beinahe sagenumwobenes Tal öffnet sich. Umrahmt von den höchsten Bergen Albaniens, den Bjeshket e Nemuna – den „Verfluchten Bergen“ – durchzogen von glasklaren Flüssen, die ihre Kraft in vielen kleinen Wasserfällen demonstrieren, und all das in einer Abgeschiedenheit, die menschliche Zivilisation beinahe nicht vermuten lässt. Die Menschen sind ursprünglich hierher geflüchtet, vor den Ottomanen, später vor den Kommunisten, vor Hoxha, vor wem auch immer. Die Bevölkerung hier war seit jeher bettelarm, daher sind viele Junge auch weggezogen, haben ihr Glück im Ausland versucht. Heute kommen manche sogar wieder zurück. Heute, wo der Tourismusboom wieder den Funken einer existenziellen Chance offeriert. Denn ein Geheimtipp ist dieses Tal schon seit einiger Zeit nicht mehr, der Kommerz hat Einzug gehalten. Der erste Teil der Straße auf den Theth ist mittlerweile asphaltiert, einige Cafes am Straßenrand, einige Konobas, viele Schilder zu Guesthäusern zeugen vom Bemühen der Bewohner, ihre Heimat für Touristen zu öffnen. Und dennoch, die Zahl der Privatautos wird schwindend klein, man sieht noch Eselgespanne und Pferdefuhrwerke, auf den Feldern in den Niederungen wird noch vieles per Hand erledigt, die älteren Frauen tragen dunkle Schürzenkleider und Kopftuch. Es sind vor allem die Gesichter der Alten, die davon zeugen, wie schwer es wohl über viele Jahrzehnte war, in dieser Abgeschiedenheit zu überleben. Dunkel gegerbte Haut und tiefe Furchen lächeln einem entgegen – freundliche Menschen, die einen willkommen heißen. Die Schlucht ist nicht ganz so tief wie im Vermosh-Tal, aber es gefällt uns hier noch um einiges besser. Das Wasser hat Canyons ausgewaschen und darin lässt es sich ganz herrlich baden – nicht eisig, nur erfrischend.

 

In der Tiefebene rund um den Shkodra-See, aus der wir kommen,  ist es ohnedies so heiß, dass uns jedes Grad Abkühlung sehr willkommen ist. Wir sind daher auch schon kurz nach 06.00 Uhr morgens mit dem Motorrad weggefahren, um nicht ganz in der Mittagshitze zu landen. Am Pass oben endet das nagelneue Asphaltband und es folgen ca. 15 km Geröll und Schotter auf 1000 Höhenmetern hinunter in den Ort Theth. Ein weitläufig angelegtes Dorf in einem Talkessel auf 770 m Höhe. Hier gibt es noch viele der alten Steinhäuser, kleine Wasserläufe bewässern die Felder und am Ortsrand steht der fensterlose Blutracheturm, die einzige Zufluchtsstätte bei Familienfehden der vergangenen Jahrzehnte. Zu zweit auf einer KTM hier hinunter zu fahren, das bedeutet wieder mal einander zu lieben und alle Diskussionen auf später zu verschieben. Wir sind uns einig, dass wir es versuchen wollen. Was runter in den Ort ja noch so einiger Maßen geht, gestaltet sich zurück bergauf dann als echte Herausforderung. Ohne auf Zug zu fahren, kriegt uns Christian da schwer um die Kurven nach oben. So kommen wir beide ziemlich verschwitzt wieder am Pass oben an, aber mit wunderschönen Bildern im Kopf und in der Kamera.

 

Ein wirklich lohnenswerter Ausflug. Abgesehen davon, wäre es ohnedies keine Alternative gewesen, das Tal weiter über die Südroute zu verlassen. Da hätten dann nämlich ca. 45 km Schotter und Geröll auf uns gewartet. Hier nur eben ein paar Details, um die Abgeschiedenheit dieser Bergdörfer zu demonstrieren. Mit Allradjeeps sind diese Pisten ganz gut zu bewältigen, zumindest in der Trockenheit. Und so füllen sich auch die Guesthäuser mit Wanderern und Spaziergängern und mit jenen, die einfach nur der Hitze der Tiefebene entfliehen wollen.

 

Langsam rollen wir wieder den asphaltierten Teil nach unten und genießen nochmals die herrliche Aussicht auf die imposante Berglandschaft rund um uns, sowie die ansprechende Bäuerlichkeit dieser Umgebung. Trotz beginnendem Tourismus, und vielleicht v.a. wegen einiger vom Ausland finanzierter Projekte, konnte die herkömmliche Architektur größtenteils bewahrt werden. Auch viele der neuen Häuser sind noch aus Naturstein erbaut und zum Teil sogar mit Holz-Schindeln gedeckt. Die alten Schiefer-Schindeln verschwinden natürlich mehr und mehr. Und so bewahrheitet sich wieder – mit der Straße beginnt viel Neues, doch sie verändert alles grundlegend! Wieder mal liegen Fluch und Segen sehr nahe beisammen, sind wie siamesische Zwillinge untrennbar miteinander verbunden und jeder darf sich aussuchen, für wen der beiden Geschwister er mehr Sympathie hegt….