Wo Geister und Götter wohnen
Mitten in den Tropen, zwischen Frangipani und Hibiskusblüten, existiert eine lebendige Götterschar. Die Balinesen kennen sie alle und verehren sie mit Inbrunst. Sie sind Teil ihres Alltags, von der Geburt bis zum Tod und bestimmen alle Abläufe in ihrer Gesellschaft. Der Dharma-Hinduismus gibt ihnen dazu den geeigneten Rahmen, der genügend Raum für animistische Anteile lässt. Jedem Baum, jeder Pflanze und ganz vielen Orten wohnt eine Kraft inne, ein Geist. Und Geister werden verehrt – man stimmt sie gütig, damit sie einen beschützen mögen. Was für viele vielleicht eigenartig anmutet, erscheint mir hier realer und lebenswerter als unser christlicher Zugang. Warum an etwas glauben, das man weder sehen noch angreifen kann, wenn die Natur dahingehend verbindlich real ist. Ich gebe zu bedenken, dass man in der christlichen Religion an einen unsichtbaren Gott und an den noch weniger materialisierten Heiligen Geist glaubt. Wie viel realer ist es da doch, an die Kraft eines existenten Steines oder gar kraftvoll fauchenden Vulkans zu glauben. Hier sitzt ganz bestimmt göttliche Energie, ich kann das gut nachvollziehen. Die Kraft der Natur ist fühlbar und sichtbar, schenkt Leben oder Verderben, ist uns gnädig oder weist uns in unsere Schranken. Wer soll diese Macht noch anzweifeln?
Die Vielfalt der Götter ist hier auf Bali so groß, dass mir der Überblick längst verloren gegangen ist. Doch jeden Tag wieder staune ich über die unzähligen Rituale, die den Alltag der Balinesen bestimmen. Mitten im Eingang eines Hauses liegt ein kleines Bastkörbchen mit ein paar Blüten und Reiskörnern. Es wird dort respektvoll hingelegt und jeder geht sorgsam drum herum. Jeden Tag. Am Haustempel wird eine kleine Schale mit Essen abgelegt, um die Reisgöttin gütig zu stimmen. Dabei vollzieht die zierliche Balinesin mit einem Räucherstäbchen einem Dirigenten gleich ein ganz spezielles Ritual. Am Ende legen ihre Finger in einer tanzähnlichen Geste noch drei Blüten dazu. Jeden Tag. Ich bin fasziniert. In den Vulkanen, da leben die Götter, im Meer die Dämonen, und irgendwo dazwischen versucht sich jeder Balinese zu positionieren. Gutes zu tun und Schlechtes zu vermeiden. „Dharma“, das Weltgesetz, bedeutet Pflicht, Recht und Ordnung. Und jedes Wesen im Kosmos sollte sich so verhalten, wie es seinem ihm angedachten Platz entspricht. Mit der Hilfe der Geister könnte es gelingen. So sensibel, so schön und zuvorkommend empfängt einen Bali – jeden Tag.